Kein sonstiger Schaden bei Verstoß gegen Treu und Glauben?
0Die Situation ist insbesondere für ermächtigte Krankenhausärzte nach § 116 SGB V immer wieder prekär. In der Vergangenheit haben die Krankenkasse reihenweise Verordnungen der ermächtigten Ärzte geprüft und teilweise mehrere hunderttausende Euro regressiert, wenn die Verordnungen nicht vom ermächtigten Arzt persönlich unterzeichnet oder während stationärer Behandlungen verordnet worden sind. Die gegen die Feststellung entsprechender Schäden eingelegten Rechtsmittel bleiben regelmäßig ohne Erfolg. In einer bemerkenswerten Entscheidung des Sozialgerichts Mainz vom 07.12.2022 (- S 3 KA 14/19 -) hat das Gericht aber einen solchen Regressbescheid wegen Verstoßes gegen die Gebote von Treu und Glauben aufgehoben.
Dabei geht auch das Sozialgericht Mainz davon aus, dass die Voraussetzungen für eine Schadensfeststellung nach § 48 Abs. 1 BMV-Ä dem Grunde nach vorlagen.
In einem sog. obiter dictum hat das BSG ausdrücklich klargestellt, dass das Gebot persönlicher Leistungserbringung auch für die Verordnungstätigkeit eines ermächtigten Krankenhausarztes gilt. Ferner hat das BSG unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass das Gebot persönlicher Leistungserbringung nicht nur die ärztliche Entscheidung über das zu verordnende Medikament selbst, sondern auch die persönliche Ausstellung und Unterzeichnung der Verordnung voraussetzt (BSG, Urteil vom 20.03.2013 – B 6 KA 17/12 R –). Da die Verordnungen wurden vom Krankenhausarzt unstreitig nicht eigenhändig unterschrieben, lag eine Verletzung vertragsärztlicher Pflichten vor. Das eigenhändige Unterschreiben von Verordnungen ist dabei kein Formalismus. Klarstellend hat das Gericht darauf hingewiesen, dass es nicht die Auffassung vertritt, dass dem Gebot persönlicher Leistungserbringung auf andere Weise als durch die eigenhändige hinreichend Rechnung getragen werden kann.
Gleichwohl hätte in entsprechender Anwendung der Grundsätze von Treu und Glauben nach § 242 BGB der beantragte Regress wegen unzulässiger Rechtsausübung abgelehnt werden müssen, soweit ein Regress betreffend Verordnungen ohne eigenhändige Unterschrift des Krankenhausarztes beantragt worden ist. § 242 BGB stellt keine Rechtnorm mit feststehenden Tatbestandsvoraussetzungen und einer eindeutigen Rechtsfolgenaussage dar. Die Vorschrift übernimmt vielmehr die Funktion eines rechtsdogmatischen Einfallstors für die Korrektur gesetzlicher oder vertraglicher Regelungen, um anderen der Rechtsordnung immanenten Wertungen – aber auch überrechtlichen sozialethischen Prinzipien – im Einzelfall Rechnung tragen zu können. Die Gebote von Treu und Glauben sollen letztlich also der Verwirklichung einer „Einzelfallgerechtigkeit“ dienen, indem der Rechtsanwender zu einer umfassenden Abwägung zwischen den im Einzelfall widerstreitenden Interessen nach allgemein anerkannten methodischen Grundsätzen verpflichtet wird.
Um eine effizientere Operationalisierbarkeit zu gewährleisten, wird der Grundsatz des Treu und Glaubens in der Rechtspraxis mittels der Bildung von mehrstufigen Fallgruppen „binnensystematisiert“. Als anerkannte Fallgruppe kommt vorliegend allein die Beschränkung oder gänzliche Verwehrung subjektiver Rechte wegen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens in Betracht. Rechtsmissbräuchliches Verhalten setzt dabei nicht zwingend ein subjektives Element wie Vorsatz oder Verschulden voraus. Gleichwohl verdeutlicht ein Blick auf die allgemein anerkannten Fallgruppen der unzulässigen Rechtsausübung, dass subjektive Momente – insbesondere das frühere Verhalten und die Motivation der Beteiligten – in die Interessenabwägung einzubeziehen und oftmals sogar entscheidungsleitend sind.
Dies zugrunde gelegt, hätte nach Ansicht des SG Mainz der Antrag der Krankenkasse nach den Grundsätzen der anerkannten Unterfallgruppe exceptio doli praesentis als rechtsmissbräuchlich ablehnen müssen, soweit ein Regress wegen Verordnungen ohne eigenhändige Unterschrift des Krankenhausarztes in Frage steht. Die zuvor benannte Unterfallgruppe greift ein, wenn die Rechtsausübung der Art oder den Begleitumständen nach ungehörig wäre oder kein schutzwürdiges Interesse an ihr besteht, so dass ihr einzig möglicher Zweck die Benachteiligung des Betroffenen ist. Das besondere Charakteristikum dieser Fallgruppe stellt eine wertende Missbilligung und ein daraus resultierende rechtlich-sittliche Vorwurf des gegenwärtigen Verhaltens des Rechtsausübenden dar.
Nach Abwägung der widerstreitenden Interessen der Beteiligten stellt sich die Durchsetzung des bestehenden Regressanspruchs in Höhe von über 200.000,00 EUR betreffend die streitbefangenen Verordnungen ohne eigenhändige Unterschrift als ungehörig dar.
Zugunsten der antragstellenden Krankenkasse streitet in Konstellationen wie der vorliegenden zunächst das Interesse an der Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben zur Aufrechterhaltung des vertragsärztlichen Ordnungssystems. Welches Gewicht diesem Interesse bei der vorzunehmenden Abwägung zukommt, richtet sich danach, wie schwerwiegend sich der Verstoß bei wertender Betrachtung der Umstände des Einzelfalls darstellt. Zum anderen ist den Krankenkassen an einem verantwortungsvollen Umgang mit den finanziellen Mitteln ihrer Mitglieder gelegen. Welches Gewicht diesem Interesse zukommt, bemisst sich einerseits nach dem Umfang des in Frage stehenden Regresses sowie andererseits nach den beanstandeten Leistungen: Steht außer Frage, dass diese grundsätzliche zulasten der GKV erbracht bzw. verordnet werden können, ist dem Interesse ein geringeres Gewicht beizumessen, als wenn die erbrachte Leistung nach Art oder Umfang fragwürdig erscheint.
Das Interesse des in Anspruch genommenen Arztes liegt zuvörderst in der Vermeidung finanzieller Einbußen. Je eher der beantragte Regress geeignet ist, gravierende finanzielle Auswirkungen auf die persönliche Lebensführung des Arztes zu haben, desto mehr Gewicht ist diesem Interesse beizumessen. Erzielte Einkünfte aus den streitbefangenen Leistungen sind hierbei kompensatorisch zu berücksichtigen. Wurden wegen desselben Verstoßes weitere Prüfverfahren beantragt, sind die im Streit stehenden Regresssummen zu addieren, da die drohenden finanziellen Belastungen des betroffenen Arztes nur auf diese Weise sachgerecht beurteilt werden kann. Zutreffend hat die Krankenkasse darauf hingewiesen, dass dies die Durchsetzung von Regressen mit zunehmendem Umfang erschwert. Entgegen ihrer Auffassung weckt dieser Umstand jedoch keine durchgreifenden Zweifel an der vom SG Mainz vertretenen Auffassung. Das Gericht weist zunächst darauf hin, dass sowohl die Anzahl der Pflichtverletzungen als auch die Höhe des Regresses keinen Rückschluss auf die Vehemenz und Qualität der Pflichtverletzung zulassen. Prüfanträge der Krankenkassen werden naturgemäß für Zeiträume aus der Vergangenheit – regelmäßig unter Ausreizung der vierjährigen Ausschlussfrist – gestellt. Wie häufig ein Arzt die ihm vorgeworfene Pflichtverletzung, mit der er regelhaft erstmalig infolge des Prüfantrags konfrontiert wird, in diesem Zeitraum – meist fahrlässig/unbewusst – begangen hat, bleibt dem Zufall überlassen. Gleiches gilt für die Höhe des Regresses, der im Wesentlichen von der Kostenintensität der streitbefangenen Leistung abhängig ist. Ferner erinnert die das SG Mainz daran, dass die Gebote von Treu und Glauben der einzelfallbezogenen Durchsetzung von der Rechtsordnung immanenten Wertungen dient. Eine das öffentliche Recht prägende Wertung ist das Übermaßverbot. Je eher ein drohender Regress dazu geeignet ist, über das gesetzgeberische Ziel des Prüfverfahrens – namentlich die sanktionsbewährte Anhaltung der zugelassenen Leistungserbringer zu wirtschaftlichem Verhalten – hinauszuschießen und die Existenzgrundlage des Betroffenen zu gefährden, desto mehr drängt es sich auf, Billigkeitserwägungen gegenüber Gleichbehandlungsaspekten im Einzelfall vorrangige Bedeutung beizumessen.
Dies zugrunde gelegt, überwiegt nach Ansicht des SG Mainz vorliegend das Interesse des Krankenhausarztes. Die mit dem Regress einhergehenden finanziellen Belastungen sind immens und zweifelsohne geeignet, sich gravierend auf die Lebensverhältnisse des Krankenhausarztes auszuwirken. Verfahrensübergreifend wurden wegen Verordnungen ohne eigenhändige Unterschrift des Krankenhausarztes Regresse über 200.000,00 EUR festgesetzt. Einkünfte hat der Krankenhausarzt mit den streitbefangenen Verordnungen nicht erzielt. Den redlichen Interessen der Krankenkasse kommt hingegen nach Ansicht des Gericht ein nur marginales Gewicht zu. Der Verstoß gegen das Gebot persönlicher Leistungserbringung beschränkt sich vorliegend auf die der Arzneimittel-Anforderung nachgelagerten fehlende Gegenzeichnung der Verordnungsblätter. Die therapeutischen Entscheidungen hatte der Krankenhausarzt persönlich getroffen. Ferner bestehen keine Zweifel am Bestehen der grundsätzliche Kostentragungspflicht der Krankenkasse für die verordneten Arzneimittel. Der Regress betrifft ausschließlich zugelassene Standard-Therapeutika, die im Rahmen der jeweiligen Tumorerkrankung zu den leitliniengerechten Therapieregimen gehören.
Die Entscheidung ist erstaunlich und rückt das Vorgehen der Krankenkassen im Verhältnis zwischen der Schwere der vorgeworfenen Pflichtverletzung und dem geltend gemachten Schaden ins richtige Verhältnis. Die klare und deutliche Position des Gerichts unter Betonung des Grundsatzes von Treu und Glauben ist zu begrüßen. Ob diese aber im streng formalistischen System der vertragsärztlichen Versorgung in höheren Instanzen bestand haben wird, ist mehr als zweifelhaft. Es ist eher zu erwarten, dass die streng formalistische Betrachtung sich durchsetzen wird und damit unter Betonung der erheblichen Haftungsrisiken noch einmal verdeutlicht wird, dass die vertragsärztliche Versorgung für junge Ärzte wenig attraktiv ist.
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