Kein Vergütungsanspruch des Sachverständigen für Gutachten zu Rechtsfragen

2

Inwieweit bei Vergütungsrechtsstreitigkeiten zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern strittige Fragen durch ein medizinisches Gutachten aufzuklären sind, ist oft unklar, weil die Trennung zwischen vom Gericht zu beantwortenden Rechtsfragen und vom medizinischen Sachverständigen aufzuklärenden medizinischen Tatsachenfragen nicht einfach ist.

Eine aktuelle Entscheidung des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 08.03.2021 (- L 7 KO 7/18 -) hat mit einer lesenswerten Begründung, einem medizinischen Sachverständigen den Vergütungsanspruch für ein umfassendes Gutachten zu Kodierungsfragen versagt, weil es sich das Gutachten ausschließlich mit Rechtsfragen beschäftigte. Dabei macht das Gericht sehr grundsätzliche Ausführungen zum Verhältnis zwischen medizinischen Sachverständigen und Gericht, die weitreichende Bedeutung haben werden.

Ausgangspunkt des Gerichts ist, das für ein Rechtsgutachten der gerichtliche Sachverständige keine Vergütung beanspruchen kann, weil die Beantwortung von Rechtsfragen allein dem Gericht vorbehalten ist. Die Einholung eines Rechtsgutachtens durch das Gericht zu in Deutschland geltenden, deutschen Rechtsnormen ist nach Ansicht des Gerichts dem gerichtlichen Sachverständigenbeweis wesensfremd. Der Sinn und Zweck des Sachverständigenbeweises besteht darin, dass der Sachverständige als Gehilfe des Richters seine besondere Sachkunde zur Verfügung stellt, um aus bestimmten Tatsachen konkrete Schlussfolgerungen zu ziehen, Kenntnisse von Erfahrungssätzen zu vermitteln oder mit besonderem Fachwissen Tatsachen festzustellen, und dadurch die Erkenntnismöglichkeiten des Gerichts zu erweitern. Die Rechtsermittlung obliegt dem Richter selbständig und in vollem Umfange. Dies bedeutet für das Gericht im Einzelnen, dass es entweder die genaue Kenntnis vom anzuwendenden Recht hat oder dass es dieses Recht ermitteln muss, sei es durch Studium von Literatur und Rechtsprechung oder durch Informationen von Kollegen, wissenschaftlichen Mitarbeitern oder anderen Fachleuten. Diese Art der richterlichen Information über die Rechtslage ist ein interner Vorgang und hat keinerlei Verbindung zu einem Beweisverfahren. Der Sachverständige hat nicht die Aufgabe, den entscheidungserheblichen Prozessstoff zusammenzustellen, zu ordnen oder in rechtlicher Hinsicht zu bewerten. Eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass eine Beweisaufnahme nur über streitige Tatsachen, nicht aber Rechtsnormen durchzuführen ist. Auch der Umstand, dass sich eine Materie zum „Spezialgebiet“ entwickelt hat, ist kein Grund, ein Gutachten einzuholen. Der qualifizierte Volljurist, der als Richter eingestellt worden ist, muss in der Lage sein, sich in auch für ihn fremde Rechtsgebiete einzuarbeiten. Aus diesem Grund ist anerkannt, dass Kosten für vom Gericht bestellte Rechtsgutachten gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG den Parteien nicht auferlegt werden dürfen.

Entsprechend ist es nach Ansicht der Richter des LSG Niedersachsen-Bremen auch allein Sache des Gerichts, über die Frage der richtigen Kodierung zu entscheiden und festzustellen, ob die von einem Krankenhaus abgerechnete Vergütung zutreffend oder unzutreffend war (vgl. BSG, Beschluss vom 19.03.2020 – B 1 KR 65/19 B -). Dies gilt auch für die Frage, ob eine Nebendiagnose für die Abrechnung zusätzlich zur Hauptdiagnose zu kodieren ist (BSG, Urteil vom 16.07.2020 – B 1 KR 16/19 R –). Es darf nicht einem Sachverständigen überlassen werden, vielmehr darf dieser nur beauftragt werden, soweit die zugrundeliegenden tatsächlichen Voraussetzungen einer Klärung bedürfen.

Soweit dazu andere Auffassungen vertreten werden (vgl. etwa LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 4.07.2017 – L 2 SF 122/17 B E –), überzeugen diese nicht. Es sei unzutreffend, wenn davon ausgegangen würde, dass sich die Frage der Abrechenbarkeit einer Leistung auf medizinischem Gebiet entscheide, nämlich danach, welche Haupt- und Nebendiagnosen nach ärztlicher Feststellung vorliegen würden. Welche Haupt- und Nebendiagnosen vorlegen, obliegt nach der vorliegenden Entscheidung gerade nicht ärztlicher Feststellung, sondern ist originärer Gegenstand der Kodierung. Gegenstand ärztlicher Feststellung kann danach allein sein, welche Beschwerden und Erkrankungen bei dem Patienten bestanden, der dem abzurechnenden Behandlungsfall zugrunde liegt. Hierzu können und müssen ggf. als Tatfragen gutachterliche Feststellungen im Wege des Sachverständigenbeweises nach § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 402 ff. ZPO eingeholt werden, wenn und soweit im Einzelfall z.B. konkrete Befunde, Krankheitsbilder und Behandlungen streitig sind. Die auf der Grundlage eines – ggf. unter Zuhilfenahme von medizinischem Sachverstand – hinreichend geklärten Sachverhalts dann zutreffende Anwendung und Auslegung der Kodierrichtlinien und damit auch die zutreffende Kodierung von Haupt- und Nebendiagnosen sind dagegen als Rechtsfragen dem Sachverständigenbeweis entzogen (so auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.08.2019 – L 15 KR 489/19 B – und vom 09.01.2020 – L 15 KR 766/19 B -). Diese Aufgabe der verbindlichen Auslegung von Rechtsnormen ist als Kernbereich der richterlichen Tätigkeit einer Delegierung auf Medizincontroller oder andere Hilfspersonen nicht zugänglich. Auch und gerade in Bereichen eines im Einzelfall schwierigen Zusammenspiels zwischen rechtlichen und medizinischen Fragen ist es die essentielle und nicht delegierbare richterliche Aufgabe und Verantwortung, in einem ersten Schritt den entscheidungserheblichen Prozessstoff zusammenzustellen und die für die jeweilige Abrechnungskonstellation relevanten streitigen Kodierungsvoraussetzungen zu identifizieren, in einem zweiten Schritt bei dabei ggf. relevanten medizinischen Fragen eine Aufklärung durch geeignete prozessrechtliche Ermittlungsmethoden, ggf. auch durch Beauftragung von nach den Vorgaben des JVEG zu erstattenden und zu vergütenden medizinischen Sachverständigengutachten, herbeizuführen und abschließend in einem letzten Schritt die danach für die jeweilige Abrechnungskonstellation relevanten rechtlichen Fragen auf der Grundlage des ausermittelten Sachverhalts zu entscheiden. Soweit hierzu, wie gerade im Bereich der hochkomplexen und schwierigen kodierungsrechtlichen Fragen im Bereich der Abrechnungsstreitigkeiten von Krankenhäusern, vertiefte spezialrechtliche Kenntnisse unerlässlich sind, müssen diese ggf. durch geeignete Fortbildungen erworben und vermittelt werden.

Dem Sachverständigen hilft es auch nicht weiter, dass der Beweisbeschluss des Gerichts ihm die Beantwortung von Beweisfragen aufgibt, wenn er erkennt, dass der medizinische Sachverhalt eigentlich unstreitig ist.

Erkennt ein Sachverständiger, dass die Einholung des Sachverständigengutachtens teilweise überflüssig, überwiegend sogar unzulässig durch ein Gericht erfolgt, so kann er sich nur dadurch dem Vorwurf der rechtsmissbräuchlichen – da gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstoßenden – Vergütungsforderung erwehren, indem er das Gericht nach § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 408 ZPO auf diesen Umstand hinweist und um seine Entpflichtung im Wege des richterlichen Dispenses bittet. Denn dem Gericht ist es möglicherweise mangels medizinischer Sachkunde nicht möglich gewesen, die fehlende Klärungsbedürftigkeit seiner Beweisfragen zu erkennen, weshalb es auf einen entsprechenden Hinweis des Sachverständigen angewiesen ist. Hinsichtlich der Unzulässigkeit der Gutachteneinholung zu inländischen Rechtsfragen ergibt sich die Hinweispflicht des Sachverständigen unmittelbar aus § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 407a Abs. 4 Satz 1 ZPO (Pflicht des Sachverständigen unverzüglich eine Klärung durch das Gericht herbeizuführen, sollte er Zweifel an Inhalt und Umfang des Auftrages haben). Ggfs. muss der Sachverständige auf eine förmliche Entscheidung über die dem Gericht gegenüber vorgetragenen Bedenken bestehen. Sieht der Sachverständige dagegen davon ab, das Gericht entsprechend zu informieren, muss er sich den Vorwurf des missbräuchlichen Verhaltens entgegenhalten lassen, der seinen Vergütungsanspruch dann gänzlich entfallen lässt.

Die Entscheidung ist zwar konsequent, in der rechtlich gebotenen Trennung von Rechts- und Tatsachenfragen, wird die Gerichte aber in Vergütungsstreitigkeiten zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen vor erhebliche Probleme stellen. Denn das Gericht ist zur Anwendung eines Normsystems gezwungen, dessen Tatbestände fast ausschließlich medizinisch bestimmt sind und daher die Anwendung der Normen bereits erheblichen medizinischen Sachverstand erfordert, der den zuständigen Richtern kaum im Wege „geeigneter Fortbildung“ zu vermitteln sein wird. Die Nachholung des Medizinstudiums oder die Ausbildung zum Medizincontroller wird kaum zu realisieren sein. Vielmehr wird sich auch hier die Erkenntnis durchsetzen müssen, dass zur Klärung des medizinisch bestimmten rechtlichen Tatbestandes, der Richter auf die Hilfe eines  medizinischen Sachverständigen angewiesen ist (was der BGH im GOÄ-Bereich durchaus erkannt hat – vgl. BGH, Urteil vom 05.06.2008 – III ZR 239/07 –).
Für die Praxis wird wichtig werden, dass Gericht und Sachverständige sich im Sinne der dargestellten Arbeitsteilung über ihre unterschiedlichen Aufgaben klar werden und das Gericht in diesem Sinne auch die Tätigkeit des gerichtlichen Sachverständigen lenkt, wie es der Gesetzgeber eigentlich auch vorgesehen hat. Die „blinde“ Delegation der Entscheidung der zentralen Streitfragen an den medizinischen Sachverständigen und die „blinde“ Beantwortung solcher Beweisfragen durch den gerichtlichen Sachverständigen birgt nach der vorliegenden Entscheidung für den ärztlichen Sachverständigen die Gefahr, dass er seinen Vergütungsanspruch für das Gutachten verwirkt. Sofern diese Rechtsprechung zu einer Sensibilisierung der Beteiligten für die Frage der Abgrenzung von Rechts- und Tatsachenfragen führt, ist die Entscheidung zu begrüßen.

Für Rückfragen zu diesem oder einem anderen medizinrechtlichen Thema stehen wir Ihnen gerne telefonisch unter 0681-3836580 oder per E-Mail unter ra@ra-glw.de zur Verfügung. Besuchen Sie auch unsere Internetseite http://www.ra-glw.de

Meinungen zu diesem Beitrag

  1. Dr. med. Michael Stiehl am

    Wenn ich diese Entscheidung richtig verstehe, heißt das, dass der Medizinische Dienst, wenn er über die Rechtmäßigkeit einer Kodierung entscheidet, eine Rechtsfrage beantwortet, nicht eine medizinische Frage. Sein Name ist aber „Medizinischer Dienst“. Hat diese Entscheidung insoweit Auswirkungen auf die Prüfungen der Abrechnungen der Krankenhäuser durch den MD oder ist sie erst wichtig, wenn es zum Prozess vor dem Sozialgericht kommt?

  2. Dr. Florian Wölk am

    Sehr geehrter Herr Dr. Stiehl,

    aus unserer Sicht wird die Entscheidung keine Auswirkungen auf die Prüfpraxis des MD haben. Die Frage der schwierigen Abgrenzung zwischen Tatsachen- und Rechtsfragen wird die Gerichte aber insbesondere bei der Beauftragung medizinischer Sachverständige beschäftigen. Diese Problem ist seit Jahren bekannt, wird aber in der Praxis aber oft ausgeblendet. Auch wir erwarten nicht, dass nun alle zuständigen Richter Fortbildungen im Bereich der DRG-Kodierung machen werden, um strittige Kodierfragen selbst beurteilen zu können. Allerdings würden wir allen gerichtlichen Sachverständigen empfehlen, die Reichweite des Gutachtenauftrags kritisch zu prüfen und bei Fragen, diese mit dem Gericht zu klären. Andernfalls besteht die Gefahr, dass der gerichtliche Sachverständige für das erstellte Gutachten keine Vergütung erhält.

    Mit freundlichen Grüßen

    Florian Wölk

Ihre Meinung dazu?

Mit * markierte Felder sind Pflichtfelder.
Ihre E-Mailadresse wird weder veröffentlicht, noch an Dritte weitergegeben.

* *

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden .